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UNTERNEHMERTAG

«Die wirtschaftliche Lage ist deutlich besser als die Stimmung»

Marcel Fratzscher ist einer der bekanntesten Ökonomen im deutschsprachigen Raum. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) spricht am Unternehmertag über die ökonomischen Aussichten für Europa.

Herr Fratzscher, wie beurteilen Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland und Europa?

Ich halte die wirtschaftliche Lage in Deutschland und Europa für deutlich besser als die Stimmung. Vor allem in Deutschland gibt es nach wie vor die Wahrnehmung, Deutschland sei der kranke Mann Europas, die Zukunft sei schlecht und China und die USA würden unweigerlich davonziehen. Bei aller berechtigter Sorge bin ich optimistisch, dass sich Europa und insbesondere der deutsche Mittelstand anpassen werden und diese schwierigen Zeiten auch als Chance verstehen, sich neu aufzustellen und neu zu erfinden.

Die deutsche Regierung will an der Schuldengrenze festhalten, sodass Investitionen in Infrastruktur und Technologien aufgeschoben werden. Was halten Sie davon?

Die Finanzpolitik ist neben der restriktiven Geldpolitik derzeit die grösste Bremse für die Konjunktur in Deutschland. Aber auch für den langfristigen Erfolg und für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands halte ich eine deutlich expansivere Finanzpolitik, die primär öffentliche Investitionen stärkt, für dringend erforderlich. Der deutsche Staat hat in den letzten 20 Jahren von seiner Substanz gelebt, die staatlichen Nettoinvestitionen waren fast durchgehend negativ. Deutschland braucht dringend mehr öffentliche Investitionen in eine leistungsfähige Infrastruktur für Verkehr, Digitales und Energie, in das Bildungssystem und in Innovation. Zudem ist eine steuerliche Entlastung für Unternehmen und Anreize für private Investitionen sinnvoll und notwendig. Die Unternehmen müssen in vielen Fällen deutlich mehr in neue Technologien und eine Umstellung der Lieferketten investieren. Dies braucht Zeit, Geld und gute Rahmenbedingungen.

Welche Reformen halten Sie für notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken?

Ich sehe drei grosse Reformen als die grösste Priorität für die deutsche Politik: eine grosse Steuerreform, bei der Unternehmen und auch Menschen mit geringen und mittleren Einkommen steuerlich entlastet werden. Zum Zweiten benötigen wir eine Phase der Deregulierung und klügeren Regulierung – bei der Digitalisierung, KI, der ökologischen Transformation und dem Datenschutz, damit europäische Unternehmen im globalen Wettbewerb nicht den Kürzeren ziehen. Und zum Dritten benötigt Deutschland grundlegende Reformen im Arbeitsmarkt. Die grösste Bedrohung für viele Unternehmen in Europa und insbesondere in Deutschland sehe ich durch den zunehmenden Fachkräftemangel. Für viele Unternehmen werden die fehlenden Fachkräfte zu einem existenziellen Problem werden. Das grösste ungenutzte Potenzial liegt in der Erwerbstätigkeit von Frauen und den vielen Geflüchteten. Zudem müssen alle Volkswirtschaften, vor allem Deutschland, offener und attraktiver für hochqualifizierte Zuwanderung werden.

Welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach Deutschland in der europäischen Wirtschaftspolitik einnehmen?

Deutschland hat die grösste Volkswirtschaft in Europa und dadurch eine grosse Verantwortung. Ich sehe mit Sorge, dass zahlreiche Regierungen in Europa in den letzten Jahren einen immer nationaleren Kurs verfolgt haben, so auch Deutschland. Wenn Unternehmen im globalen Wettbewerb gegenüber China und den USA bestehen wollen, dann brauchen wir in vielen Bereichen ein stärkeres und geeintes und nicht ein gespaltenes Europa. Dies betrifft die Industriepolitik, die Energiepolitik, den Handel und die Regulierung. Aber vor allem brauchen wir auch endlich den politischen Willen, die europäische Kapitalmarktunion voranzubringen und die Bankenunion zu vollenden.

Wie sehen Sie die Rolle Europa angesichts der wachsenden Spannungen zwischen der westlichen Welt und autoritären Staaten wie China oder Russland?

Europa muss sich entscheiden, ob die Welt in Zukunft eine bipolare ist, die von China und den USA bestimmt wird, oder ob es eine multilaterale Weltordnung gibt, an dessen Tisch Europa als starker Partner sitzt. Auch Deutschland muss realisieren, dass das eigene Land im globalen Vergleich klein ist und die eigenen Interessen nur als Teil eines starken Europas wahren kann. Im Augenblick sehe ich nicht den Willen aller, Europa zu stärken und mit einheitlicher Stimme zu sprechen. Dabei heisst eine Stärkung Europas für mich nicht, in allen Bereichen Kompetenzen von nationaler auf europäischer Ebene zu verlagern. Stattdessen muss es gelingen, europäische Institutionen zu verbessern und Entscheidungsprozesse schneller und überzeugender zustande zu bringen. Dafür braucht die EU auch die finanziellen Möglichkeiten, schnell und entschieden auf neue Entwicklungen reagieren zu können.

Welche Folgen befürchten Sie angesichts der aktuellen Handelskonflikte, insbesondere zwi schen den USA und China?

Wir sehen eine Eskalation der politischen und wirtschaftlichen Konflikte zwischen Ost und West, insbesondere zwischen den USA und China. Eine zweite Präsidentschaft Donald Trumps wird diesen Konflikt nochmals befeuern, mit negativen Konsequenzen überall in der Welt, vor allem für offene Volkswirtschaften wie in Deutschland, aber auch in der Schweiz und Liechtenstein. Europa kann bei diesen Konflikten eine wichtige Vermittlerrolle spielen und alle daran erinnern, dass Handelskonflikte nur Verlierer und keine Gewinner kennen. Ich verstehe den Wunsch, manche nationale Interessen zu schützen, aber dies darf nicht zu einem generellen Handelskonflikt führen, wie wir ihn jetzt sehen.

Wie sehen Sie die Rolle Liechtensteins und der Schweiz in der Weltwirtschaft?

Ich habe Liechtenstein und die Schweiz immer in einer solchen Vermittlerrolle gesehen. Beides sind kleine und wirtschaftlich extrem erfolgreiche Volkswirtschaften, die zwar nicht Mitglied der Europäischen Union, aber tief in Europa verwurzelt sind. Beide Volkswirtschaften sind sehr offen und stark vom globalen Handel und offenen Märkten, auch für Kapital, abhängig. Liechtenstein und die Schweiz sind noch mal stärker als Deutschland von der Globalisierung abhängig. Die Hoffnung ist, dass eine Eskalation der globalen wirtschaftlichen Konflikte vermieden werden kann, aber das Risiko wird sicherlich weiter bestehen bleiben und erfordert von allen, mit diesen Risiken klug umzugehen.
«Die wirtschaftliche Lage ist deutlich besser als die Stimmung»
Marcel Fratzscher ist einer der bekanntesten Ökonomen im deutschsprachigen Raum. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) spricht am Unternehmertag über die ökonomischen Aussichten für Europa.

Interview: Patrick Stahl

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